Wider den gesellschaftlichen Kältetod: Ein Loblied auf das menschliche Antlitz

Veröffentlicht am 30. Januar 2017 in der Kategorie

Davon, dass es „keinen wirklichen Glückszustand gibt, der das Leid und die Verzweiflung, die Hoffnung und die Sehnsucht ausklammert“, spricht Ernst Marianne Binder in seinen Notizen zur Oper „Hänsel und Gretel“. Hänsel und Gretel sind in Ernst M. Binders Deutung Schutz suchende Flüchtlingskinder, die auf einem Müllplatz unserer Überflusswelt Rast machen.

Die Premiere seiner Inszenierung in der Kunstuniversität Graz hat er nicht mehr erlebt. In der Nacht des 28. Jänner ist Ernst Marianne Binder völlig unerwartet gestorben. In antiquierter Weise sind Werk und Mensch bei Ernst M. Binder kaum zu trennen. Konsequent und radikal hat er sich in seinem Leben und Werk, seinem Lebenswerk, dem entzogen, was mancherorts Mainstream genannt wird, einem begrifflichen Monstrum, das ihm ein Gräuel war.

In einer Zeit, in der ganze Industrien an der Zerstörung des menschlichen Antlitzes (Dževad Karahasan) arbeiten, hat er eine Position der Verweigerung eingenommen und Gegenwelten entworfen. Inakzeptabel waren für Ernst Marianne Binder der zunehmende Rassismus, Nationalismus und die unappetitliche Politik gegenüber Flüchtlingen. Das Erzählen von Flüchtlingsmärchen wolle er nicht der FPÖ überlassen, meinte er im Vorfeld zur Aufführung seines Stückes „Jarmuk“ im letzten Jahr.

Immer wieder haben sich die Wege von Ernst M. Binder mit jenen der ISOP berührt, etwa als er vor einigen Jahren gemeinsam mit Ninja Reichert die deutschen Übersetzungen der Gedichte der großen slowenischen Poetin Maruša Krese, einer ihm verwandten Seele, las.
Oder auch, als es ihm 2008 anlässlich der Verleihung des Professorentitels wichtig war, diesen nicht in glamourösen Räumen der offiziösen Repräsentanz entgegenzunehmen, sondern sich ISOP als Sozialeinrichtung, die Flüchtlinge begleitet, wünschte, wo er seine Auszeichnung erhalten wollte.

Was bleibt angesichts der Trauer!?

Was bleibt, das sind Erinnerungen an zahlreiche beglückende Inszenierungen wider den gesellschaftlichen Kältetod, etwa von Herbert Achternbusch, Sarah Kane, Elfriede Jelinek und Einar Schleef!

Was bleibt, das sind Erinnerungen an gemeinsames politisches Engagement gegen eine Politik der Menschenfeindlichkeit!

Was bleibt, das sind insbesondere und vor allem Erinnerungen an eine 35-jährige Freundschaft, an die vielen Gespräche, an deine klugen Bemerkungen zu Kunst und Literatur, an deinen wunderbaren Humor, an deinen Trotz, wenn du dich vielleicht hin und wieder leidenschaftlich verirrt hast, an deine liebevolle Begleitung in dunkleren Zeiten, daran, wie stilvoll und kultiviert du aufgekocht hast, an Nächte mit Tom Waits, daran, dass du mir ein Buch über Allan Pettersson, dem über alles geliebten Komponisten aus Deutschland mitgebracht hast, dessen Symphonien das Aufbäumen im Tunnel des Todes besingen …

Das und vieles mehr bleibt und ist nicht tot!

Robert Reithofer, Jänner 2017

Bild: dramagraz

Laudatio Ernst M Binder von Robert Reithofer im Mai 2008